"Nachhaltigkeit braucht Lebenszyklus.
Lebenszyklus braucht Prozessinnovation."
Aktuelles

Klimaneutralität erfordert ein deutlich spürbar höheres Tempo

Gerhard Kopeinig (Co-Leiter der Arbeitsgruppe „Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft im Bauwesen“) und Klaus Reisinger (Leiter der Arbeitsgruppe „Der weitere Weg zum klimaneutralen Gebäude“) geben im Interview Auskunft über die aktuelle Situation auf dem Weg zur Klimaneutralität im Bauwesen, über die Chancen und Herausforderungen der Kreislaufwirtschaft und die politischen Implikationen. Das Interview führte Sven P. Jakobson.

 

Es ist daher nicht nur wichtig, dass das Gebäude mit nachhaltigen Baustoffen errichtet wird, dass es energieeffizient ist und mit klimafreundlichen Energieträgern versorgt wird, sondern es ist besonders wichtig, die Lage des Gebäudes zu analysieren.
Klaus Reisinger | iC consulenten
Wenn die Themen Energiebedarf für die Gebäudeerrichtung und den Gebäudebetrieb sowie die Mobilität nahezu klimaneutral sind, wird die Kreislauffähigkeit unserer gebauten Umwelt entscheidend für die Bilanzierung werden.
Gerhard Kopeinig | ARCH+MORE

 

Der Bau- und Gebäudesektor liegt laut dem Bericht des UN-Umweltprogramms “2020 Global Status Report for Buildings and Construction“ beim Treibhausgasausstoß weltweit auf Rekordniveau. Der Sektor macht mittlerweile 38 Prozent der globalen CO2-Emissionen aus. Inwieweit kann Kreislaufwirtschaft in der Baubranche hier entgegenwirken?

 

Gerhard Kopeinig: Wenn die Themen Energiebedarf für die Gebäudeerrichtung und den Gebäudebetrieb sowie die Mobilität nahezu klimaneutral sind, wird die Kreislauffähigkeit unserer gebauten Umwelt entscheidend für die Bilanzierung werden. Beim Energiebedarf ist dabei jene die ökologischste, die erst gar nicht benötigt wird, was bedeutet, dass wir mit einer digitalen Planung bauliche Strukturen schaffen müssen, die möglichst lange im Lebenszyklus verbleiben können, die möglichst einfach umnutzbar sind und, von denen wir wissen, welche Materialien und in welchen Mengen im Gebäude verarbeitet wurden.

Der Bausektor wird den CO2-Ausstoß nur reduzieren können, wenn der Materialbedarf reduziert wird. Dies ist nur möglich, wenn möglichst wertige Materialien möglichst lange in der Nutzung gehalten und am Ende ihrer langen Nutzungsdauer gut getrennt wieder aufbereitet und idealerweise am selben Ort wieder eingebaut werden können.

 

 

Die CO2-Emissionen von Gebäuden liegen weltweit auf Rekordniveau. Was macht ein Gebäude entscheidend klimaneutral?

 

Klaus Reisinger: Streng genommen sind Gebäude für CO2-Emissionen verantwortlich, die sich aus drei Bereichen zusammensetzen: die Errichtung des Gebäudes, der Energiebedarf des Gebäudes und die Mobilität, welche das Gebäude durch seinen Standort hervorruft. Betrachten wir diese drei Bereiche im Detail, so kommen wir zum Schluss, dass die CO2-Emissionen aus dem Bereich der Mobilität den größten Anteil haben. Es ist daher nicht nur wichtig, dass das Gebäude mit nachhaltigen Baustoffen errichtet wird, dass es energieeffizient ist und mit klimafreundlichen Energieträgern versorgt wird, sondern es ist besonders wichtig, die Lage des Gebäudes zu analysieren. Ein Passivhaus am falschen Platz verursacht deutlich mehr CO2-Emissionen als ein schlecht isoliertes Gründerzeithaus in der Innenstadt, wo die Alltagsmobilität ohne Auto funktioniert. Im Bereich der Energieversorgung von Gebäuden haben wir aufgezeigt, wie es funktionieren könnte: Wir können jetzt bereits energieeffiziente Häuser mittels Wärmepumpen heizen und kühlen und den dafür benötigten Strom aus PV-Anlagen der Dächer gewinnen. Es ist also technisch möglich, Gebäude klimafreundlich und energieautark zu betreiben. Dies gelingt uns bei der Errichtung leider noch nicht und bei der Mobilität sind wir sogar meilenweit davon entfernt. In diesen Bereichen haben wir daher dringenden Handlungsbedarf.

 

 

Sind die Maßnahmen der österreichischen Regierung ausreichend, um den Gebäudesektor bis 2035 klimaneutral zu machen? Wenn nicht, was fehlt?

 

Klaus Reisinger: Die Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus! Im Gegenteil: Das, was bisher bekannt ist, sind dieselben Maßnahmen neu verpackt. In unserer Arbeitsgruppe haben die Expert*innen die bisherigen Maßnahmen bewertet und wir sind zum Schluss gekommen, dass sich die Klimaneutralität weder bis 2030 noch bis 2040 ausgehen kann. Einige Expert*innen glauben sogar, dass wir es nicht einmal bis 2050 schaffen, von klimaneutralen Gebäuden zu sprechen, jedenfalls dann nicht, wenn wir das Tempo nicht deutlich erhöhen. Es fehlen Maßnahmen in vielen Bereichen, besonders aber bei der Mobilität. In Wahrheit trauen sich die Politiker noch immer nicht, die „heilige Kuh“, das Auto, zu verteuern. Genau das aber würde es brauchen. Im Gegenteil: Es gibt eine große Lobby für den weiteren Ausbau von Autobahnen. Diese sind mit der Klimaneutralität aber nicht in Einklang zu bringen!

 

 

In Ihrer Arbeitsgruppe steht die Weiterentwicklung von Gebäudestandards hinsichtlich der Koppelung von Klimaneutralität und Kreislauffähigkeit mit konkreten Ideen im Zentrum. Welche Ideen wurden bislang konkretisiert?

 

Gerhard Kopeinig: Um kreislauffähig werden zu können, ist das Wissen um die verbauten Materialien unumgänglich. Ein konkreter Ansatz ist der digitale Gebäudepass, der erfasst, welche Materialien in welchen Mengen mit welcher Nutzungsdauer im Gebäude verbaut werden. In dieser Form kann unsere Gebäudestruktur zur Materialressource werden und Kreislauffähigkeit konkret umgesetzt werden.

Ein weiterer vielversprechender Ansatz ist, dass einzelne Gebäudeteile, z.B. abgehängte Decken oder Doppelböden im Innenausbau, nicht mehr nur gekauft, sondern über einen gewissen Lebenszeitraum mit Rücknahmevertrag durch den Anbieter montiert werden und dann auch wieder ausgetauscht, gewartet und recycliert werden.

Aus der Kreislaufwirtschaft werden völlig neue Geschäftsmodelle – auch im Zusammenhang mit der Zertifizierung – im Gebäudesektor entstehen.

 

 

Herr Reisinger, Herr Kopeinig, was muss der Bau- und Gebäudesektor in den nächsten 10 Jahren konkret umsetzen, um klimaneutral zu werden? Gibt es hier so etwas wie die Top-5-Maßnahmen für die Bau- und Immobilienwirtschaft?

 

Klaus Reisinger: Die „Top 5“ waren bereits im Leitfaden von 2020 enthalten und haben nach wie vor Gültigkeit:

  • Keine fossilen Energieträger für Wärme und Strom von Gebäuden
  • Ganzheitliche Sanierung von Bestandsimmobilien
  • CO2-Emissionen der Mobilität deutlich reduzieren, Ausbau des öffentlichen Verkehrs
  • Vollständige Umsetzung des Gebäudesektors auf eine ressourcenoptimierte Kreislaufwirtschaft
  • Kompensation der verbliebenen CO2-Emissionen mit hochwertigen Klimaschutzprojekten

 

Gerhard Kopeinig:

 

  • Grundsätzlich ist der Bestand als Ressource zu erkennen und grundsätzlich zu versuchen, bestehende Strukturen zukunftstauglich weiterzuentwickeln.
  • Durch die Digitalisierung des Gebäudebestandes (digitaler Gebäudepass) wird zu erheben sein, welche Lebenszyklen mit welchen Materialmengen der Bestand bietet.
  • Neue Geschäftsmodelle im Zusammenhang mit Zertifizierungen werden entstehen, welche die Qualität im Gebäudesektor steigern werden, um längere Nutzungszyklen erzielen zu können.
  • Bewusstseinsbildung einerseits und Material- und Gebäudeforschung (z.B. sortenreine Trennbarkeit von Materialien) andererseits, werden einen wesentlichen Beitrag zur Implementierung der Kreislaufwirtschaft leisten.
  • Materialknappheit und legislative Maßnahmen (Deponierungsverbote) werden es erfordern, den Bestand als Ressource deutlich mehr zu schätzen.

 

 

Vielen Dank für das Interview!

 

Sie wollen mehr über die Themen Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft erfahren und sich mit den Experten persönlich austauschen? Diskutieren Sie im Rahmen des 11. Kongresses der IG LEBENSZYKLUS BAU am 21. Oktober in Wien mit führenden Expert*innen, Politiker*innen und Praktiker*innen über die zentralen Fragen, Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten für eine nachhaltige und klimaneutrale Zukunft der Bau- und Immobilienbranche.

 

Zum Programm


Das könnte Sie auch interessieren...